„Boeing-Moment“ für das Bauwesen

Technik-Pannen und Flugzeug-Abstürze haben den einst führenden Flugzeugbauer in schwere Bedrängnis gebracht, und die gesamte Luftverkehrsbranche durch Flugzeugmangel gleich mit. Boeing-Chef Dave Calhoun, zuvor für den Vermögensverwalter Blackstone tätig, hat zwischenzeitlich seinen Rücktritt zum Jahresende angekündigt. Nach und nach wird eine Unternehmens-Kultur öffentlich, bei der wirtschaftliche Parameter gegen alle Widerstände der eigenen Ingenieure über Qualität und Sicherheit gestellt wurden. Jetzt muss das Unternehmen umsteuern, um zu überleben.

Vor 30 Jahren haben Ämter, Institutionen und Infrastruktur-Anbieter über eine hohe Ingenieur-Kompetenz verfügt, vor allem auch im Bereich der Führung: Technisch geprägte Führungspersönlichkeiten hatten nicht nur im Hier und Jetzt Bau und Betrieb zu verantworten, sondern dabei stets auch die technische Lebensdauer und damit einhergehende Entwicklungsoptionen im Blick zu halten. Und das für Planungs-Horizonte von 30-50 Jahren, um “Überraschungen” bei den Bauwerkszuständen zu vermeiden.

Salzbachtal-Brücke in Wiesbaden am 01.05.2021, kurz vor dem Versagen eines Brückenpfeilers, der am 06.11.2021 die Sprengung des Gesamtbauwerks erforderlich gemacht hat.

Derartige Zeiträume sind für wirtschaftliche Betrachtungen natürlich eine Herausforderung: Wer möchte sich schon heute damit auseinandersetzen, welche Kosten oder Investitionen in 30 Jahren anfallen werden? Was könnte kaufmännisch geprägte Entscheider gar motivieren, jetzt knappe Mittel in Rückstellungen zu binden, die erst einige Amtsnachfolger nach ihnen in Anspruch nehmen werden? Viel leichter rechen-, vermittel- und diskutierbar sind doch Maßnahmen, die in den nächsten 3-5 Jahren umgesetzt werden können. Zumal die Verschiebung technisch anstehender Maßnahmen um solch vergleichsweise kurze Zeitspannen wenigstens in der Anfangszeit meist keine unmittelbar wirksamen negativen Folgen nach sich zieht.

Finden solche Verschiebungen aber wiederholt und über Jahrzehnte hinweg statt, offenbart sich das Dilemma: Nicht nur bei den maroden Autobahn-Brücken haben nicht-technische Erwägungen die Zukunft zugunsten des Morgen verspielt. Nachdem Ingenieurbauwerke strengen Prüfauflagen und ‑rhythmen durch besonders qualifizierte Bauwerksprüfer unterliegen, waren ihr Zustand und notwendige Erhaltungsmaßnahmen den Entscheidern über Jahrzehnte hinweg durchgehend bekannt (oder mussten ihnen bekannt sein). Dass tausende Autobahnbrücken jetzt marode sind, ist deshalb keine Überraschung, sondern war technisch zu erwarten und in ihrer zeitlichen Entwicklung vorhersehbar.

Die 737-9 Max ist ein Musterbeispiel für die langfristig schwerwiegenden Folgen zu kurzsichtiger, primär kaufmännisch getriebener Entwicklungen zu Lasten von Technik, Qualität und Sicherheit, hier knapp nacherzählt auf der Grundlage allgemein verfügbarer Informationen:

Die 737 war ein so erfolgreiches Flugzeugmodell, dass eine eher evolutionäre Modellpflege über Jahrzehnte ausreichend erschien. Die dabei eingetretenen Entwicklungsrückstände haben sich schließlich vor allem mit dem großen Erfolg der Airbus A320neo-Reihe offenbart und einen größeren Entwicklungsschritt unausweichlich gemacht. Um die Entwicklungskosten trotzdem weiterhin gering zu halten, sollte das bestehende Modell vor allem mit effizienteren Triebwerken ausgestattet werden. Weil dafür aber nicht mehr genügend Raum unter den Tragflächen zur Verfügung stand, wurden die Triebwerke weiter vorne angebracht. Unter bestimmten Umständen hatte das eine gefährliche Verschlechterung des Flugverhaltens zur Folge, was durch ein zusätzliches Flugstabilisierungs-System (Maneuvering Characteristics Augmentation System – MCAS) Software-gestützt ausgeglichen werden musste. Dieses System wird schließlich für zwei Flugzeugabstürze mit 346 Toten verantwortlich gemacht und ist eine wesentliche Ursache der Boeing-Krise.

Eigentlich bräuchte auch das Bauwesen einen solchen „Boeing-Moment“: Und zwar nicht nur, um die immensen technischen Bau-Rückstände endlich richtig anpacken zu können, die sich in den letzten Jahrzehnten aufgetürmt haben. Sondern auch, weil die Attraktivität von Bauberufen darunter leidet, wenn aus nicht-technischen, also neben den kaufmännischen im übrigen etwa auch aus rechtlichen oder politischen Erwägungen heraus immer wieder Ziele definiert oder Lösungen gefordert werden, von denen technisch abzuraten wäre.

Technische Aspekte verdienen mindestens den gleichen Respekt wie nicht-technische, das fortgesetzt fehlende Gehör für Ingenieure heute könnte der Ingenieur-Mangel von morgen werden!